Rostock, Januar 2013
Für die Etablierung verbindlicher Standards zur Begutachtung psychisch traumatisierter Asylsuchender
Die Begutachtung von Menschen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren ist ein komplexes, schwieriges und emotional aufgeladenes Thema, in welchem neben den Begutachteten die Gutachter*innen, Anwält*innen und bürgerliche Initiativen mit ihren jeweils eigenen Hintergründen aufeinandertreffen. Hierbei sind, nicht nur aufgrund der oftmals weitreichenden Bedeutsamkeit einer solchen Begutachtung, die Diskussionen hitzig.
Unter dem Eindruck zunehmender Flüchtlingszahlen aus Kriegsländern (wie etwa dem ehemaligen Jugoslawien, aber auch weiterer Kriegsschauplätze wie Afghanistan und Irak) stellte sich bei abnehmender Dramatik der kriegerischen Konflikte die Frage nach der Rückführung der Geflüchteten in ihre Heimat. Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, sind jedoch vielfach durch den Krieg selbst, Verfolgung sowie der anschliessenden Flucht traumatisiert und werden im Asyl-gewährenden Land häufig mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert.
PTBS gilt als häufig. In der Allgemeinbevölkerung wird (über das ganze Leben gerechnet) von einer Häufigkeit von 6% ausgegangen (Nyberg, 2005). Im Zusammenhang mit asylrechtlichen Verfahren ergab eine Auswertung von 145 Gutachten des Bremer Gesundheitsamts in 99 Fällen (68%) die Diagnose einer PTBS (Löhr, 2005). So wird auch im Ärzteblatt festgestellt (Gierlich, 2003): „Internationale wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass 20 bis 70 Prozent der Flüchtlinge, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen geflohen sind, unter psychisch reaktiven Traumastörungen leiden.“
Posttraumatische Belastungsstörungen sind seit langem als Folge des Erlebens tiefgreifender, traumatisierender Erlebnisse und existentieller Bedrohung bekannt und unter anderem im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen häufig beobachtet worden. Das Krankheitsbild setzt sich aus belastender Wiedererinnerung der traumatischen Erlebnisse (flashbacks), Vermeidungsverhalten gegenüber bestimmten Situationen oder Gedanken und emotionaler Übererregtheit in Form von gesteigerter Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen zusammen. Zur Diagnosestellung muss sich in der Vorgeschichte des Patient*innen das Beobachten oder Erleben eines traumatisierenden Ereignisses finden (wie z. B. Todesbedrohung, ernsthafte Verletzungen oder ihre Androhung), auf die die Person mit intensivem Schrecken oder Hilflosigkeit reagiert hat (Nyberg, 2005).
Schwere gesundheitliche Probleme können in aufenthaltsrechtlichen Verfahren als Abschiebehindernis geltend gemacht werden und haben deswegen oft entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens.
Wie eine Publikation des Bremer Gesundheitsamts von 2005 ausführt, wird die Diagnose PTBS oder deren Krankheitsfolgen, „wenn sie durch ärztliche oder psychologische Gutachten belegt worden sind, von den Ausländerbehörden meist als Abschiebehindernis anerkannt“ (Löhr, 2005, S. 15). Die Frage, ob die zu begutachtende Person im engeren Sinne transportfähig sei stelle sich nicht, da „moderne Behandlungsmaßnahmen nahezu jede Art von Krankentransport ermöglichen.“ (ebda., S. 20).
Die Begutachtung einer Person, besonders im Hinblick auf PTBS, erfordere große fachliche Expertise und intensive Beschäftigung mit der Vorgeschichte der Patient*in, damit der oder die Gutachter*in zu einer eigenen Einschätzung des Krankheitsbildes der Patient*in gelangen könne, so die Publikation weiter. Es müssten auch die Folgen einer Abschiebung bzw. Rückführung auf das Krankheitsbild des zu Begutachtenden in das Gutachten mit einbezogen werden.
Ausserdem erforderten die weitreichenden Konsequenzen der Begutachtung eine über das Medizinische hinausgehende kritische Reflektion juristischer und ethischer Gesichtspunkte sowie der eigenen Rolle als Gutachter*in. Denn Gutachter*innen sehen sich verschiedener Einflüsse, wie etwa durch Ausländerbehörden, durch Anwält*innen und bürgerliche Initiativen mit ihren jeweils eigenen Zielen ausgesetzt. So bergen Gutachten die Gefahr instrumentalisiert zu werden.
Medinetz Rostock e. V. ist eine studentische Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen ohne Papiere ärztliche und weitergehende Hilfe zugänglich zu machen. Uns erscheint es wichtig und für alle beteiligten Akteurinnen und AKteure wünschenswert, dem genannten Risiko der Instrumentalisierung von Gutachten, sei es von Seiten ehrenamtlicher Initiativen oder von Seiten der Politik oder Administration, entgegenzuwirken. In Anbetracht der weitreichenden Bedeutung dieser Gutachten sollte größtmögliche Objektivität der Anspruch sein, die Verfahren durch Standardisierung und Aufstellen von Grundsätzen nachvollziehbar und transparent sein. Ein Mindestmaß an Konsens zwischen allen Akteurinnen und Akteuren in diesem schwierigen Themenkomplex würde darüber hinaus eine befriedende Wirkung haben.
Für die Arbeit im institutionellen Rahmen etwa hat das Bremer Gesundheitsamt ein differenziertes Leitbild für Asyl-relevante Begutachtungen erarbeitet. Es stellt dazu Empfehlungen aus, die in Anhang 1 einzusehen sind („Krankheit als Abschiebehindernis im Spannungsfeld von Politik, Verwaltung, Fachlichkeit und Ethik“ (Löhr, 2005). Uns erscheint insbesondere die Feststellung wichtig, dass sich die Frage nach der reinen Transportfähigkeit der zu begutachtenden Person nicht stellen darf. Es muss eine differenzierte, eigenständige Analyse und Folgenabschätzung einer Abschiebung vorgenommen werden, die Kenntnisse der Situation der gesundheitlichen Versorgung im Herkunftsland mit einbezieht. Begutachtende Ärzt*innen müssen umfangreiche Qualifikation und Erfahrung besitzen sowie die Fähigkeit, seinen Auftrag und seine Rolle kontinuierlich zu reflektieren.
Um die bestmögliche Qualifizierung der Gutachter*innen sicherzustellen, verweist das Bremer Gesundheitsamt in oben genannter Publikation auf die Projektgruppe „Standards zur Begutachtung psychotraumatisierter Menschen“. In Anlehnung an das „UN Istanbul-Protokoll“ wurden Fortbildungsveranstaltungen für in der Begutachtung tätige Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen entwickelt, die von Landesärztekammern angeboten werden (http://www.sbpm.de/; SBPM, 2012).
Im Bewusstsein der Komplexität und der derzeit noch bestehenden Problematiken der asylrechtlichen Begutachtung traumatisierter Geflüchteter versteht sich dieser Beitrag als ein Anfang, um in die Diskussion mit involvierten Akteurinnen und Akteuren wie Gutachter*innen, Behörden, weiteren ehrenamtlichen Gruppen und der Politik zu treten. Unser Ziel ist es, in Rostock wie auch landesweit verbindliche Standards für die Begutachtung in aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu etablieren. Wir erhoffen uns davon klarere Strukturen, von denen die Begutachteten, die Gutachter*innen sowie weitere Akteurinnen und Akteure, wie etwa bürgerliche Initiativen enorm profitieren können.
Medinetz Rostock e. V.
ANHANG 1 – „Krankheit als Abschiebehindernis im Spannungsfeld von Politik, Verwaltung, Fachlichkeit und Ethik“ (Löhr, 2005)
1. Amtsärztliche „Reisefähigkeits“-Gutachten bei Migrant*innen gehen der Frage nach, ob eine gesundheitliche Störung im Sinne des Ausländergesetzes (ab 2005: Aufenthaltsgesetz) oder etwaige gesundheitliche Folgen körperlicher und seelischer Art, die sich aus der Abschiebung ergeben können, ein Abschiebehindernis darstellen.
2. Aus Sicht moderner medizinischer Behandlungsmöglichkeiten stellt sich im Rahmen der Reisefähigkeitsbegutachtung die Frage nach der Transportfähigkeit im engeren Sinne nicht.
3. Die Beurteilung der Reisefähigkeit erfordert umfangreiche Qualifikation, Erfahrung und die Fähigkeit der Gutachter*in, seinen oder ihren Auftrag und seine oder ihre Rolle kontinuierlich zu reflektieren.
4. Amtliche ärztliche Gutachten bei Migrant*innen führt nur das Gesundheitsamt durch, da es über die notwendige institutionelle Fachlichkeit, Objektivität und Neutralität verfügt.
5. Die besondere Schwierigkeit bei der Begutachtung zur Reisefähigkeit liegt in dem Interessengegensatz zwischen den Auftraggeber*innen, in der Regel den Ausländerbehörden, und den zu Begutachtenden und/oder ihren rechtlichen Vertreter*innen. Der*die amtsärztliche Gutachter*in ist diesen Interessengegensätzen ausgesetzt, er oder sie muss sich der Gefahr einer Instrumentalisierung bewusst sein.
6. Der*die amtsärztliche Gutachter*in beurteilt die Krankengeschichte, den Gesundheitszustand und die Glaubwürdigkeit der zu untersuchenden Person nach bestem Wissen und Gewissen und unter den Bedingungen der aktuellen Versorgung in Deutschland. Einbezogen werden verlässliche Kenntnisse über die Infrastruktur des Gesundheitswesens im Heimatland des zu Begutachtenden. Berücksichtigt werden auch die Schilderungen über Vorerfahrungen des Betroffenen im Herkunftsland.
7. Bei der Untersuchung von Migrant*innen wird der*die Gutachter*in – wie bei allen Begutachtungsvorgängen – zunächst sowohl anamnestische Angaben und geklagte Beschwerden des zu Begutachtenden als auch schriftlich vorgelegte Atteste und Befunde als Grundlage für seine Begutachtung heranziehen. Darüber hinaus geht das Gesundheitsamt davon aus, dass ihm/ihr alle, beim Auftraggeber vorhandenen, für die Begutachtung wichtigen schriftlichen Unterlagen und Informationen zugänglich gemacht werden. Darauf aufbauend folgt der*die Gutachter*in dem Prinzip, durch eigene Anschauung und Auseinandersetzung mit den schriftlichen Unterlagen Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten zu überprüfen und zu einer eigenständigen Bewertung des Beschwerdebildes oder Krankheitsverlaufes zu kommen. Sollte dies nicht mit letzter, objektiv nachzuweisender Exaktheit möglich sein, wird der*die Gutachter*in im Zweifelsfall die Maßnahmen vorschlagen, die aus ärztlicher Sicht eine Minimierung der Gesundheitsgefährdungen zum Ziel haben.
8. Grundsätzlich reicht die Begutachtung der einzelnen Person, bei Bedarf ist das soziale Beziehungs- und Unterstützungssystem einzubeziehen.
9. Amtsärztliche Gutachten sind an die Bereitstellung ausreichender Sprachvermittlung gebunden.
10. Grundlage der Begutachtung ist der Standard an Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik auf dem Boden des Asylbewerberleistungsgesetzes.
11. Für direkte Unterstützung bei Abschiebevorgängen, beispielsweise als Begleiterinnen oder Begleiter auf dem Transport, stehen Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamtes nicht zur Verfügung.
Dr. H.-Jochen Zenker
Literaturliste
Gierlichs, Hans-Wolfgang: Begutachtung psychotraumatisierter Flüchtlinge,
Konflikt mit ärztlich-ethischen Belangen. In: Deutsches Ärzteblatt, Heft 9, Seite 394, September 2003.
http://www.aerzteblatt.de/archiv/38425/Begutachtung-psychotraumatisierter-Fluechtlinge-Konflikt-mit-aerztlich-ethischen-Belangen?src=search, abgerufen am 5. 1. 2013
Löhr, Hans Heinrich: Krankheit als Abschiebehindernis im Spannungsfeld von Politik, Verwaltung, Fachlichkeit und Ethik.
http://www.gesundheitsamt.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen125.c.3093.de#2005, abgerufen am 5. 1. 2013
Nyberg, Elisabeth: Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). In: psychoneuro 2005; 31 (1): 25–29.
SBPM Arbeitsgruppe: Standards zur Begutachtung psychotraumatisierter Menschen. http://www.sbpm.de/, abgerufen am 5. 1. 2013